Das ABC der Zurückhaltung
Ein Leitfaden für die Begleitung des
kindlichen Spiels.
Der Impuls in das Spiel eines Kindes einzugreifen ist manchmal gross und schwierig zu unterdrücken. Schnell geben wir Ratschläge, lenken das Interesse auf etwas Spannendes, zeigen, wie etwas funktioniert, bewerten, bieten Hilfestellungen an, retten oder lösen ein Problem oder einen Konflikt. Es ist nicht einfach diese Impulse zu kontrollieren, während das Baby spielt und forscht. Doch es gibt gute Gründe, uns darin zu üben, zurückhaltend zu sein.
Sieben Gründe für mehr Zurückhaltung
#1 Interessensverlust: Diverse Studien belegen, dass das Interesse eines Kindes an einer Tätigkeit abnimmt, wenn es sich dazu gedrängt fühlt, etwas (auf eine bestimmte Art und Weise) zu tun. Es verliert nicht nur das Interesse an einer bestimmten Aktivität, sondern auch das Interesse daran, Gegenstände und Aktivitäten kreativ und vielfältig zu erkunden.
#2 Leistungsdruck: Kinder, die beim Spielen angetrieben werden, etwas zu schaffen (z.B. durch Anweisungen oder Lob) bzw. Babys, deren Eltern eine sehr belehrende Rolle einnehmen, neigen später dazu, ihren Selbstwert an ihre Leistung zu knüpfen: Sie fühlen sich nur dann wertvoll und liebeswürdig, wenn sie besondere Leistung erbringen können.
#3 Gefühl der Inkompetenz: Wenn Eltern dem Kind ständig Dinge beibringen wollen, die das Kind selbst noch nicht kann, nimmt das Vertrauen des Kindes in seine Fähigkeiten ab. Das Kind erlebt dann, dass die Art und Weise, wie es forscht und lernt, nicht gut genug ist. So sinken mit der Zeit das Selbstvertrauen und der Mut, neue Aufgaben anzugehen.
#4 Verlust der Frustrationstoleranz Kinder, deren Eltern (bei Frust) sehr schnell helfen oder Lösungen anbieten, verlieren mit der Zeit ihre angeborene Frustrationstoleranz. Anstatt Frust in Motivation umzuwandeln und Motivation schliesslich in Stolz, lernen diese Kinder, bei Frust schnell aufzugeben und sich von der Hilfe von aussen abhängig zu machen.
#5 Verminderte Körperwahrnehmung Kinder, die ständig dazu animiert und dabei unterstützt werden, Dinge zu tun, für die sie noch nicht bereit sind, haben Schwierigkeiten zu lernen, sich auf ihre Selbsteinschätzung und ihr Körpergefühl zu verlassen. So bauen sie weder eine gute Selbstwahrnehmung noch eine gute Selbsteinschätzung auf.
#6 Abhängigkeit Eine weitere Gefahr von übermässigem Bespielen oder Belehren ist, dass das Kind von den Inputs der Eltern abhängig werden kann. Es verliert seine Spontaneität und Eigeninitiative, weil ungebetene Anweisungen dem Baby die Möglichkeit nehmen, auf seine Weise zu denken, zu entdecken und zu experimentieren.
#7 Reizüberflutung Beim Entertainen des Kindes besteht auch immer die Gefahr, dass wir das Baby überreizen, wenn wir nicht sehr vorsichtig auf seine Signale achten (z.B. glasige Augen, Abwenden des Blicks, unruhiges Quengeln…). Kinder, die oft überreizt sind, können chronisch ängstlich oder verwirrt sein und wenig Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln. Zudem leiden sie auch oft an Schlafproblemen.
Das ABC der Zurückhaltung:
Abwarten, Beschreiben, Coachen
Das ABC der Zurückhaltung kann Eltern dabei unterstützen, auf eine zurückhaltende Art und Weise mit den Erkundungsbedürfnissen ihres Kindes umzugehen. Das heisst nicht, dass wir nie mit dem Kind spielen, ihm nie helfen oder etwas zeigen dürfen. Es heisst aber, dass wir in Momenten, in denen das Kind in ein Spiel vertieft ist, eine ermöglichende und Zurück-Haltung einnehmen und nicht vorschnell mit Inputs, Ratschlägen, Lösungen, Belehrungen, Bewertungen, Entertainment, Rettungsmanövern usw. in das Spiel eingreifen.
Schritt 1: Abwarten
In vielen Erkundungssituationen ist es ein grosses Geschenk für unser Kind, wenn wir einfach abwarten und ihm dadurch ermöglichen, seine Umwelt nach seinen eigenen Interesse, in seinem eigenen Tempo und auf seine eigene Art und Weise zu erkunden sowie eigene Lösungen für Probleme zu entwickeln. Solange das Kind von uns keine Inputs und keine Unterstützung einfordert, solange es sich keinen grossen Gefahren aussetzt und so lange es nicht unsere persönlichen Grenzen verletzt, können wir abwarten und uns darüber freuen, wie kreativ und eigenständig unser Kind die Welt entdeckt. Es gibt z.B. keinen Grund, einem Kind zu erklären, wie ein Spielzeug «richtig» funktioniert, wenn es dieses "falsch" anwendet. Es gibt auch keinen Grund einem Baby zu helfen, sich auf den Bauch zu drehen, wenn es konzentriert dabei ist, das zu üben. Kinder wollen und können «es» selbst schaffen!
Schritt 2: Beschreiben
Wenn das Kind uns voller Stolz etwas zeigt, wenn es immer frustrierter wird, weil etwas nicht klappt, wenn es sich in Gefahr oder in eine missliche Lage bringt oder wenn es in einen Konflikt gerät, dann wollen und können wir irgendwann nicht mehr abwarten. Nun können wir aber in vielen Situationen immer noch zurückhaltend bleiben, indem wir einfach beschreiben, was wir wahrnehmen. Wir geben keine Inputs, Bewertungen oder Ratschläge und bieten keine Lösungen. Alles, was wir tun, ist, Kontakt zu unserem Kind aufzunehmen und ihm seine Situation zu beschreiben, damit es sich besser darin zurechtfinden kann. Beim Beschreiben können wir…:
-
die Situation beschreiben:
«Du hast dich gerade ganz allein da hochgezogen» -
die wahrgenommenen Gefühle des Kindes spiegeln:
«Du siehst richtig glücklich und stolz aus!» -
unsere eigenen Gefühle zum Ausdruck bringen:
«Ich freue mich gerade sehr mit dir!»
Schritt 3: Coachen
Wenn das Kind sehr frustriert ist, wenn es in einen komplizierten Konflikt gerät, wenn es sich in eine wirklich schwierige Lage manövriert hat usw., dann können wir nach dem Beschreiben dazu übergehen, zurückhaltend zu coachen. Beim Coachen geht es darum, dem Kind zu helfen, ein Problem (mit der Zeit) selbstständig lösen zu können. Wir halten uns also immer noch damit zurück, ein Problem für unser Kind zu lösen. Stattdessen geben wir vielleicht zurückhaltende Hilfestellungen («Manchmal hilft es, wenn…») oder schlagen Alternativen vor («Hier hat es noch eine zweite Schaufel, vielleicht mag jemand von euch damit spielen»). Vielleicht bieten wir Halt («Ich stehe neben dir. Wenn du fällst, kannst du dich an mir festhalten» oder wir erleichtern die Aufgabe etwas («Ich stelle dir ein Podest hin, damit du besser hochsteigen kannst»). Vielleicht fangen wir einen Sturz auf und federn ihn ab, anstatt ihn zu verhindern, so dass unser Kind seine Körperwahrnehmung verfeinern kann.
Differenzierte Inputs, wie du das ABC der Zurückhaltung auf verschiedene Situationen anwenden kannst, findest du in unserem Online-Video-Kurs. Im folgenden PDF findest du Ideen zu drei konkreten Beispielen.
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