Ignorieren, Schimpfen, Strafen, Erpressen... Warum herkömmliche Erziehungsmethoden unseren Kindern schaden
«Das Kind will mit seinem Verhalten bloss deine Aufmerksamkeit erlangen, ignoriere es einfach!»
«Dieses Verhalten kannst du dem Kind nicht durchgehen lassen, das muss Konsequenzen haben!»
«Wenn du dein Kind für positives Verhalten belohnst, wird das schlechte Verhalten aufhören»
Viele Eltern sind im Verlauf ihres Lebens mit solchen oder ähnlichen
Erziehungstipps in Kontakt gekommen. In diesem Beitrag zeige ich auf,
warum herkömmliche Erziehungsmethoden wie Ignorieren, Schimpfen, Strafen
oder Belohnen (bzw. Erpressen) unseren Kindern schaden. Es fällt nicht
allen leicht, so tief in der Gesellschaft verwurzelte Überzeugungen zu
hinterfragen und loszulassen. Das folgende Gedankenexperiment kann dabei
helfen:
Deine Gastfamilie – Ein Gedankenexperiment
Stell dir einmal vor, du bist in einer Gastfamilie in einem völlig fremden Land in einer völlig fremden Kultur mit einer völlig fremden Sprache. Du möchtest mitteilen, dass es dir gerade nicht gut geht und dass du dich nach etwas Zuneigung sehnst, weil du Heimweh hast. Weil du die Sprache nicht beherrscht, versuchst du, dich mit wilden Gesten mitzuteilen. Dummerweise gilt es in dieser fremden Kultur als grobe Beleidigung, wild zu gestikulieren, was du natürlich nicht weisst. Zunächst wirst du einfach ignoriert. Deine Gastfamilie scheint zu hoffen, dass so dein unangebrachtes Verhalten von selbst aufhört. Als du immer weiter und stärker gestikulierst wirst du ausgeschimpft und ohne Nachtessen auf dein Zimmer geschickt. Dein Gastvater sagt genervt zu deiner Gastmutter: Siehst du, da haben wir’s. Europäer sind einfach frech und ständig auf Ärger aus. Die Gastmutter findet natürlich auch, dass dieses freche Verhalten aufhören muss, sie ist jedoch auch der Meinung, dass es trotz allem etwas hart ist, das ganze Abendessen zu streichen. Am nächsten Tag findest du eine Zeichnung von ihr mit der dir in etwa erklärt wird, dass du als Belohnung am Abend sogar noch einen Nachtisch bekommst, wenn du nur das Gestikulieren sein lässt.
Wie geht es dir, wenn du ignoriert, ausgeschimpft, bestraft und mit Belohnungen erpresst wirst, um ein Verhalten zu ändern, mit dem du eigentlich etwas über deine Gefühle und Bedürfnisse mitteilen wolltest?
Vermutlich fühlst du dich unverstanden, ungeliebt und hilflos. Und genau so geht es auch unseren Babys und Kindern, wenn sie ignoriert, ausgeschimpft, bestraft oder mit Belohnungen erpresst werden.
Frag dich einmal: Wenn du frei auswählen könntest, was für eine Gastfamilie würdest du dir dann aussuchen? Wie würde sie sich von der Gastfamilie im Gedankenexperiment unterscheiden?
Dressur schadet Kindern
Die herkömmlichen Erziehungsmethoden, die in deiner Gastfamilie angewendet werden, zielen primär darauf ab, dein Verhalten zu kontrollieren und zu steuern. Das Prinzip, das aus der Dressur von Tieren stammt, lautet: Reagiere auf schlechtes Verhalten mit negativen Reizen und/oder reagiere auf gutes Verhalten mit positiven Reizen.
Die Verhaltensforschung zeigt, dass eine solche Erziehung tatsächlich kurzfristig «funktionieren» kann. Zumindest bis zur Pubertät ist es möglich, ein Kind ein Stück weit zu dressieren. Aus Angst vor negativen Reizen oder vor dem Entzug von in Aussicht gestellten positiven Reizen passen sich Kinder an. Ein Problem ist natürlich, dass die Reize mit steigendem Alter gesteigert werden müssen, um noch eine Wirkung zu entfalten. Da die Reize jedoch nicht endlos gesteigert werden können, entfällt dieses Erziehungsinstrument irgendwann. Erziehung in Form von Dressur mit positiven und negativen Reizen funktioniert also – wenn überhaupt – nur kurzfristig.
Doch dieses Problem ist im Prinzip unwesentlich. Denn viel wesentlicher als die Frage, ob Dressur funktioniert oder nicht, ist die Frage, wie es Kindern dabei geht! Und auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort: Diese herkömmlichen Erziehungsmethoden tun Kindern nicht gut. Sie schaden ihrer gesunden psychischen, kognitiven und sozialen Entwicklung massiv! Denn sie nehmen einem Kind das wichtigste, was es für eine gesunde Entwicklung braucht: Nämlich die Gewissheit, bedingungslos geliebt zu werden. Jedes Mal, wenn ein Kind erlebt, dass es ignoriert, ausgeschimpft oder bestraft wird (und zu einer Strafe gehört auch der Entzug einer in Aussicht gestellten Belohnung), zweifelt es daran, als Mensch liebeswürdig und wertvoll zu sein. Denn es erlebt, dass ihm Liebe, Zuneigung und Wertschätzung entzogen bzw. vorenthalten oder nur unter bestimmten Bedingungen geschenkt werden, nämlich dann, wenn es sich angepasst verhält.
Erlebt ein Kind systematisch gezielten Liebesentzug oder dosierte Liebesvergabe, tendiert es dazu, Minderwertigkeitskomplexe und Versagensängste zu entwickeln.
Immer wieder fühlt es sich so, wie wir uns vermutlich im Gedankenexperiment in unserer Gastfamilie gefühlt haben: unverstanden, ungeliebt und hilflos. Und daraus schliesst es, dass es falsch, nicht liebeswürdig und unfähig ist. Ein Kind mit diesem Mindset ist anfällig für alle möglichen psychischen Erkrankungen und für Gruppendruck. Ebenso leiden seine Empathiefähigkeit und damit auch seine Sozialkompetenz. Denn Empathie – also die Fähigkeit die Perspektive anderer Menschen einzunehmen und mitzuberücksichtigen – entwickeln Kinder vor allem darüber, dass sie selbst empathisch behandelt werden. Erziehungsmethoden wie Ignorieren, Schimpfen, Strafen oder Erpressen sind aber alles andere als empathisch.
Jedes Verhalten ist Kommunikation!
Wenn uns die gesunde psychische, kognitive und soziale Entwicklung unserer Kinder am Herzen liegt, dann müssen wir von Erziehungsmethoden wegkommen, die einseitig auf die Kontrolle des Verhaltens abzielen. Stattdessen müssen wir anerkennen, dass jedes Verhalten – auch unangemessenes Verhalten – Kommunikation ist. Mit jedem Verhalten teilen Kinder etwas darüber mit, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Es ist zentral, dass wir lernen, diese Botschaften zu entschlüsseln und darauf einzugehen.
Denke nochmals an das Gedankenexperiment mit der Gastfamilie: Hättest du dir nicht gewünscht, deine Gasteltern hätten versucht, deine Gesten zu verstehen und darauf einzugehen? Natürlich hätten deine Gasteltern auch das Recht und die Verantwortung, dir andere, akzeptablere Wege aufzuzeigen, um dich auszudrücken. Sie müssen dein beleidigendes Verhalten nicht einfach hinnehmen, aber sie können es trotzdem zu verstehen versuchen. Genauso haben Kinder dar Recht, zu erfahren, wenn sie mit ihrem Verhalten Grenzen überschreiten. Sie haben auch das Recht, sinnvolle und akzeptable Ausdrucksmöglichkeiten zu lernen (und das gelingt am besten, indem solche Ausdrucksmöglichkeiten im Alltag vorgelebt werden). Aber vor allem haben sie das Recht, nicht auf ihr Verhalten reduziert zu werden, sondern in ihren Gefühlen und Bedürfnissen, die sie mit ihrem Verhalten äussern, wahr- und ernstgenommen zu werden.
Dein Kind kann sich seine Familie nicht aussuchen. Aber du kannst dich fragen: In was für einer Familie soll mein Kind aufwachsen?
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