26. März 2021 – Eva Fleer

Warum Erziehungs­strategien nicht funktionieren müssen

In meinem Beitrag «Nein sagen aber wie? Drei Strategien, die alle Eltern kennen sollten», habe ich drei Möglichkeiten aufgezeigt, wie wir Nein sagen und trotzdem zugewandt bleiben können.

Eine Mutter schrieb mir als Reaktion auf diesen Beitrag:

«Diese Strategien hören sich ja ganz nett an. Aber bei uns funktioniert keine. Mein Sohn akzeptiert mein Nein einfach nicht. Auch wenn ich ein Ja unter Bedingungen gebe oder ein Ja in der Fantasie, tut er trotzdem genau das, was ich ihm verboten habe (…). Und wenn ich dann auf meinem Nein beharre, bekommt er einen Gefühlsausbruch, weint, schreit, tobt, schlägt… Und dann seinen Frust zu bejahen verstärkt seinen Gefühlsausbruch nur noch mehr (…).»

Was für ein Frust. Diese Mutter hat sich viel versprochen von den Strategien und wurde bitter enttäuscht. Was genau hat sie sich (vermutlich) versprochen?

  1. Dass die Strategien einen unmittelbaren Einfluss auf das Verhalten ihres Sohnes haben, so dass er ein Nein ohne viel Widerstand akzeptieren (sprich gehorchen) kann.
  2. Dass die Strategien helfen, schwierige Gefühle fernzuhalten oder zumindest schneller zu überwinden, dass sie also unmittelbar zu mehr Zufriedenheit bei ihrem Sohn führen.

Sie hat sich also überspitzt gesagt versprochen, dass diese Strategien ihr ein gehorsames, glückliches Kind hervorbringen.


Subjektorientierte Kommunikation kann "funktionieren"...

Ich fühle mich einerseits missverstanden und andererseits ertappt. Missverstanden, weil keine dieser Strategien das Ziel hat, dass ein Kind ein Nein plötzlich einfach so akzeptieren kann oder zumindest seinen Frust darüber möglichst schnell überwindet.

Und ertappt, weil ich im besagten Beitrag meine Best-Practice-Beispiele wiedergebe, die tatsächlich hoffen lassen, dass diese Strategien in dieser Weise «funktionieren». JA, es war für mich beispielsweise eine ganz wunderbare Erfahrung, dem Wunsch meiner Tochter, abends nochmals aufzustehen, in der Fantasie nachzugehen und zu erleben, wie wir so einander nahe bleiben, anstatt in einen «Nein»-«Doch»-«Nein»-«Doch»-Kampf zu geraten.


...muss aber nicht!

Aber NEIN, meine Tochter reagiert nicht jedes Mal so entspannt, wenn ich ihr anbiete, einen Wunsch in der Fantasie zu erfüllen. Kürzlich zum Beispiel wollte sie ins Hallenbad gehen. Auf der Suche nach ihrem Badetuch hat sie den ganzen Kleiderschrank leergeräumt. Ich habe ihr erklärt, dass wir nicht ins Hallenbad gehen können, weil die Bäder zu sind. Ich habe sie gebeten, die Kleider nicht aus dem Schrank zu räumen. Dann habe ich ihr vorgeschlagen, dass unser Bett in der Fantasie das Hallenbad ist und wir «Schwimmen-Gehen» spielen, ein Spiel, dass ihr schon oft Spass bereitet hat. Das Resultat: Zuerst hat sie weiterhin den Schrank ausgeräumt und als ich dazu weiterhin Nein sagte, hat sie angefangen zu weinen und zu toben… Und das eine gefühlte Ewigkeit, «obwohl» ich doch so viel Verständnis für ihren Frust gezeigt habe.

In diesem Beispiel hat die Strategie «Ja in der Fantasie» meiner Tochter nicht geholfen, mein Nein besser zu akzeptieren. Und auch die Strategie «Ja zum Frust» hatte nicht zur Folge, dass sie sich schnell beruhigt hat und schnell wieder zufrieden war. Zeigt dieses Beispiel also, dass die Strategien nichts taugen, dass sie nicht «funktionieren»?

Die Antwort auf diese Frage lautet:

Ja klar zeigt dieses Beispiel, dass die Strategien nicht dazu taugen, ein braves und zufriedenes Kind zu haben. Denn eine solche unmittelbare Wirkung auf das Verhalten oder auf die Befindlichkeit unseres Kindes ist gar nicht das Ziel dieser Strategien und damit auch nicht ein sinnvolles Kriterium dafür, ob sie etwas taugen oder nicht. Es ist nicht sinnvoll, den Erfolg der subjektorientierten Kommunikation daran zu messen, wie sich ein Kind aktuell gerade verhält oder fühlt.

Das Kernziel der subjektorientierten Kommunikation ist, ein Kind innerlich zu stärken. Mehr zu diesem Thema findest du im frei zugänglichen ersten Kursblock im Video 1.2.



Wie gut genährt die innere Stärke eines Kindes ist, ist jedoch kaum messbar. Denn auch innerlich starke Kinder haben Krisen, sind manchmal unglücklich, verhalten sich (aus Erwachsenensicht) immer mal wieder völlig daneben, widersprechen, sind frech, hassen ab und zu ihre Eltern oder Geschwister, haben mitunter manchmal Selbstzweifel und Versagensängste oder knicken mal bei Gruppendruck ein. Das gehört alles zur Entwicklung und zum Leben dazu. Es gibt keine Erziehung und keine Kommunikationsstrategie, die das verhindern könnte.


Richtige Erziehung = Richtiges Ergebnis?

Geschwisterstreit und Geschwisterliebe

Das Erbe der behavioristischen Erziehung

Die Idee, dass wir mit den richtigen Erziehungsmethoden die richtigen Ergebnisse erzielen können, sitzt tief im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft. Herkömmliche (sogenannte behavioristische) Methoden versprechen als Ergebnis vor allem das richtige Verhalten. Wir brauchen bloss die richtigen negativen oder positiven Anreize zu setzen und schon haben wir ein kooperatives, rücksichtsvolles, hilfsbereites, dankbares (…) Kind.

Offensichtlich gewaltvolle Anreize wie körperliche Züchtigung oder harte Strafen sind heute zwar weitgehend verpönt, aber «sanfte» Alternativen dazu findet man immer noch in vielen Ratgebern. Der «Schäm-di-Egge» wurde durch das Timeout oder den stillen Stuhl ersetzt, das Schimpfen durch das gezielte Ignorieren, die Strafe durch die logische Konsequenz oder gar durch eine Belohnungstafel. Die Grundidee und das Versprechen, mit den richtigen Reizen das richtige Verhalten zu erzielen, sind jedoch gleich geblieben. Gedanken dazu, warum solche verhaltenssteuernden Methoden unseren Kindern nicht gut tun (egal wie sanft sie scheinen), findest du im Artikel: «Ignorieren, Schimpfen, Strafen, Erpressen… Warum herkömmliche Erziehungsmethoden unseren Kindern schaden».

Bedürfnisorientierte Erziehung als Wundermittel?

Aktuell verbreitet sich in unserer Gesellschaft immer mehr eine Erziehungsphilosophie, die sich klar von diesen herkömmlichen Anreiz-Methoden abwendet. Die neue Philosophie, auf der auch die subjektorientierte Kommunikation aufbaut, nennt sich z.B. bedürfnisorientiert, bindungsorientiert oder beziehungsorientiert. Die Grundlage für diesen neuen Ansatz sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse der modernen Bindungs- und Entwicklungsforschung. Diese Forschung zeigt, dass sich Kinder kognitiv, psychisch und sozial dann am besten entwickeln können, wenn ihre Bedürfnisse gut befriedigt sind, wenn sie positive Bindungserfahrungen machen und tragfähige Beziehungen aufbauen können. Es zeigt sich, dass mit diesen neuen Ansätzen tatsächlich eine sehr gute Ausganslage dafür geschaffen wird, dass unsere Kinder mit Begeisterung und Erfolg lernen, dass sie grundsätzlich eine glückliche Kindheit erleben und dass sie zu rücksichtsvollen, sozialen und kooperativen Menschen heranwachsen.

Aufgrund dieser Erkenntnisse lassen sich nicht wenige bedürfnisorientierte Erziehungsratgeber direkt oder versteckt zu einem alten, letztlich behavioristischen, Versprechen hinreissen: Nutze diese oder jene bedürfnisorientierte Strategie und dein Kind wird sich wie gewünscht sozial verhalten. Hinzu kommt neu oft noch das Versprechen: Das Kind wird dabei glücklich sein.


Bedürfnisorientierte Strategien, behavioristische Versprechen...

Ein Beispiel für ein solches Versprechen habe ich gerade kürzlich im Buch «Hand in Hand. Fünf einfache Strategien durch die Höhen und Tiefen des Elternseins» von Patty Wipfler und Schore Tosha gefunden. Die fünf Strategien (Wunschzeit, Bleib-Ganz-Ohr, Grenzen-Setzen, Ganz-Ohr-Spiel und Gegenseitiges einfühlsames Zuhören) passen wunderbar zur bedürfnisorientierten Erziehung und zur subjektorientierten Kommunikation. Grundsätzlich kann ich das Buch also durchaus weiterempfehlen.

Was mir aber auffällt, sind die vielen Beispiele von Eltern, die berichten, wie erfolgreich sie die eine oder andere Strategie angewandt haben, um das Verhalten ihrer Kinder positiv zu beeinflussen. Mit vielen solchen Berichten wird veranschaulicht, was die fünf Hand-in-Hand-Strategien bewirken können. In einem Beispiel berichtet z.B. eine Mutter wie sie die Strategie «Wunschzeit» erfolgreich eingesetzt hat, um den morgendlichen Stress zu reduzieren:

«Es klappte tatsächlich! Sie putzten sich ohne Druck die Zähne und machten sogar selbständig ihr Bett. Ganz erstaunlich.»

Und da haben wir sie wieder: Die behavioristische Idee, dass eine Erziehungsstrategie dann erfolgreich ist, wenn sie das kindliche Verhalten positiv beeinflusst. Hätte die Wunschzeit bei dieser Mutter nicht den entsprechenden Effekt auf das Verhalten der Kinder gehabt, hätte sie nach dieser Idee zum Schluss kommen müssen, dass sie nichts bringt bzw. dass sie nicht funktioniert. Ob die Wunschzeit z.B. das Selbstvertrauen und den Selbstwert der Kinder oder die Eltern-Kind-Beziehung stärkt, spielt gemäss dieser Idee keine Rolle, so lange die gewünschte Verhaltensänderung ausbleibt.


Eltern unter Druck...

Wenn Eltern der Idee verfallen, mit den richtigen Strategien das richtige (messbare) Ergebnis erzielen zu können, setzen sie sich enorm unter Druck. Dabei ist dieser Druck für viele Eltern mit der bedürfnisorientierten Erziehung noch grösser geworden, weil die Ratgeber als «richtiges» Ergebnis nicht nur das gute, soziale Verhalten, sondern auch das glückliche und erfolgreiche Kind versprechen.

Jedes Mal, wenn ihr Kind sich dann zum Beispiel asozial verhält, Lernschwierigkeiten hat oder unglücklich ist, müssen Eltern annehmen, die falschen Strategien gewählt zu haben oder die richtigen Strategien falsch eingesetzt zu haben. Und das ist natürlich wahnsinnig frustrierend. Der folgende Satz einer Mutter aus einem Elternforum steht für mich exemplarisch für diesen Frust:

«Egal, wie man es macht, macht man es falsch - irgendwer ist gefühlt immer unzufrieden.»

Bedeutet die momentane Unzufriedenheit eines Kindes wirklich, dass die Eltern etwas falsch gemacht haben? Wenn wir die Idee loslasssen, dass wir mit der richtigen Erziehung das richtige Ergebnis erzielen können, dann können wir diese Frage nur verneinen. Und damit hoffentlich etwas Druck wegnehmen.


Am Ende bleibt nur das Vertrauen

Ich habe grosses Vertrauen in die Ergebnisse der modernen Bindungs- und Entwicklungsforschung. Ich vertraue darauf, dass ich meiner Tochter gute Voraussetzungen für eine gesunde kognitive, psychische und soziale Entwicklung schaffe, indem ich auf ihre Bedürfnisse eingehe und indem ich viel darin investiere eine tragfähige und vertrauensvolle Bindung zu ihr aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Ich vertraue darauf, dass ich durch die subjektorientierte Kommunikation ihre innere Stärke Tag für Tag nähren kann und ich vertraue darauf, dass diese innere Stärke ihr im Leben immer wieder weiterhelfen wird.

Gleichzeitig weiss ich, dass keine Erziehungs- und keine Kommunikationsstrategie der Welt meiner Tochter das Leben garantiert, das ich mir für sie wünsche. Aus den Erkenntnissen der Wissenschaft lässt sich nicht schliessen, dass Kinder, die bedürfnisorientiert aufwachsen und weitgehend eine gewaltfreie, subjektorientierte Kommunikation erleben, nie Lernschwierigkeiten haben, nie in einer Krise stecken und unglücklich sind und sich immer vorbildlich sozial verhalten können.

Weder der momentane Lernerfolg, noch die momentane Befindlichkeit noch das momentane Verhalten eines Kindes sind aus einer subjektorientierten Sicht ein guter Massstab für «gelungene» Erziehung. Der Massstab ist die innere Stärke, aber die lässt sich nicht messen. Daher bleibt am Ende tatsächlich nur das Vertrauen, es gut genug zu machen.

Dieses Vertrauen hilft mir, mich in konkreten Situationen nicht zu herkömmlichen, behavioristischen Methoden verleiten zu lassen, weil diese kurzfristig mehr «Erfolg» versprechen. Ja, vielleicht würde meine Tochter manchmal schneller kooperieren, wenn ich ihr eine Belohnung versprechen oder mit einer Konsequenz drohen würde. Ja, vielleicht würde sie manchmal schneller wieder zufriedener erscheinen, wenn ich ihren Frust einfach ignorieren oder sie davon ablenken würde, anstatt sie geduldig darin zu begleiten. Dann hätte ich vielleicht kurzfristig das «richtige» Ergebnis, sprich das gehorsame und scheinbar glückliche Kind. Aber das auf Kosten der inneren Stärke zu erreichen, ist es mir nicht wert.

Nora Imlau bringt es in ihrem wunderbaren Buch «Mein Familienkompass. Was brauche ich und was brauchst du?» wie folgt auf den Punkt:

«Wir alle sind mehr als das Ergebnis unserer Erziehung – das gilt auch und gerade für unsere Kinder. Deshalb gibt es zwar jede Menge Studien, die durchaus belegen, dass sichere Bindungserfahrungen und eine gewaltfreie Kindheit voller Wärme, Wertschätzung und Respekt statistisch gesehen ein ziemlich genialer Ausgangspunkt für ein gesundes, glückliches Leben darstellen. All diese Ausgangsvoraussetzungen sind jedoch kein Garant dafür, dass unser Kind deshalb irgendwann das Leben haben wird, das wir ihm wünschen. Diese Garantie gibt es nie. Auch wenn Erziehungsratgeber gern damit werben, das Rezept zu kennen, wie aus den Kindern von heute die besten Erwachsenen von morgen werden – letztlich haben wir es als Eltern nicht in der Hand, unsere Kinder zu guten Menschen zu machen.»

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